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Was passiert mit der Vinyl Industrie?

  • 29 September 2021, Mittwoch
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Handelt es sich um eine weitere unvermeidliche Veränderung im Musikgeschäft oder sogar um eine größere Bedrohung als Corona für unabhängige Plattenfirmen?

In der ersten Hälfte des Jahres 2021 stiegen die Vinyl-Verkäufe laut RIAA um 94%. Der Umsatz mit Musikaufnahmen in den USA stieg um 1,5 Milliarden Dollar (+27%). Das Wachstum wird hauptsächlich durch Musikstreaming und Premium-Abonnements bei Anbietern wie Spotify, Apple Music und Deezer angetrieben, mit einem Anstieg von 13% im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020.

Dieses Wachstum ist nicht nur in den USA zu beobachten, sondern auch in Deutschland, wo der Umsatz mit Musikaufnahmen um 12,4% auf 1 Milliarde Dollar gestiegen ist (Quelle: Music Business Worldwide).

German Music Industry 2021

Und was geschah mit den Vinylverkäufen? Sie explodierten.

In den USA stiegen die Vinylverkäufe in der ersten Hälfte des Jahres 2021 um 108%. Da wir das Gleiche in Europa beobachten, was ist das Problem? Die Leute kaufen Vinyl, also sollten Labels und Künstler*innen darüber glücklich sein, oder? Nicht so schnell.

Wie The Guardian berichtet, haben die Presswerke Probleme, die Nachfrage zu befriedigen und finanzstarke Labels versuchen sich vorzudrängeln. Hinzu kommt, dass es einen Mangel an PVC gibt, was zu Verzögerungen bei den Lieferanten der Presswerke führt, so dass diese mit den üblichen Produktionsverzögerungen nicht Schritt halten können. Vor ein paar Jahrzehnten konnten wir Schallplatten innerhalb weniger Wochen pressen, während wir heute zwischen 6 und 12 Monaten warten müssen. Wenn du als Plattenlabel oder Künstler*in Audiodateien und Druckvorlagen hast, die an das Presswerk geschickt werden können, musst du mittlerweile fast ein Jahr warten, bis du deine Schallplatten in Händen hältst. Das ist nicht tragbar.

Um tiefer in die Faktoren und Folgen der Verknappung der Vinylproduktion einzutauchen, haben wir Mirko Gläser, Inhaber des deutschen Independent-Labels Uncle M Music interviewt.

Mirko Gläser

Mirko Gläser, Inhaber von Uncle M

Mein Name ist Mirko Gläser. Ich bin der Inhaber des hybriden Musikunternehmens Uncle M, mit Sitz an der deutschen Nordseeküste. Wir verstehen uns als eine Mischung aus Label, Marketing/PR-Agentur, Musikverlag und Berater für derzeit rund 75 Bands und zahlreiche internationale Labels.

Ich bin seit Anfang der 00er Jahre im Labelbusiness tätig und habe in früheren Jahren, in den erfolgreichsten Phasen, Bands wie The Gaslight Anthem, Flogging Molly, Gogol Bordello, aber auch die Donots, Itchy oder 100 Kilo Herz mit meiner Arbeit begleitet. Mit iMusician sind wir über die Band Attic Stories verbunden, die ihre Songs in unserer Musikverlagsabteilung Oh Lumiere veröffentlicht.

Kannst du uns sagen, was mit der Vinylproduktion und den Presswerken gerade los ist?

Hierfür gibt es viele Gründe. Auch wegen Corona gibt es in vielen Branchen weltweit eine Rohstoffkrise. Produkte, die auf Holz und Öl basieren (was bei LPs der Fall ist: PVC und Papier sind hier die Hauptbestandteile), erleben massive Preissteigerungen, ausgelöst durch eine enorme Nachfrage im Bau- und Fertigungssektor in den USA und China. Erschwerend kommt hinzu, dass die ständigen Schließungen chinesischer Häfen aufgrund der lokalen COVID-Ausbrüche die sehr anfällige Lieferkette und Logistik stark irritiert haben. Hinzu kommt, dass die enormen Energiemengen, die zum Pressen benötigt werden, seit einigen Jahren immer mehr kosten – von der notwendigen CO2-Kompensation ganz zu schweigen. Alles in allem sind die durchschnittlichen Herstellungspreise seit Anfang 2021 um bis zu 60% gestiegen.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen erschwerenden Faktor: Vinyl boomt seit einigen Jahren und ist spätestens seit Ende 2019 auch wieder ein Thema für die großen Plattenfirmen, die ihre Neuerscheinungen und auch ihre gigantischen Backkataloge in immer größeren Mengen pressen. Um 2010 wurden in Deutschland 700.000 Vinyl-Schallplatten verkauft, im Jahr 2020 waren es bereits rund 4,2 Millionen – Tendenz steigend.

Allerdings, und hier spitzt sich das Problem zu: Es gibt nur wenige deutsche und internationale Presswerke, die solche Mengen auch produzieren könnten. Abgesehen von einigen kleineren DIY-Herstellern gibt es in Deutschland vielleicht 3-4 Anbieter, die für eine solche Massenproduktion in Frage kommen. Europaweit sind es weniger als 10. Die Vinylproduktion ist ein sehr manueller Prozess – von der Mastererstellung bis zum Mischen von Sonderfarben. Vinyl-Fans haben sich über die Jahre daran gewöhnt, aufwändige Farbkombinationen (Splatter, halb/halb, Eigelb, ...) zu bekommen – und es bereitet den hiesigen Presswerken massive (Zeit-)Probleme, dies auf ihren antik anmutenden Maschinen zu produzieren.

Hinter vorgehaltener Hand spricht ein Branchenführer davon, dass er mit mehr als 1 Million Tonträgern im Rückstand ist, was einer Jahresproduktion in seinem Presswerk entspricht!

Die Kurzform:

  • Massiver Wettbewerb & Kämpfe um die wenigen verfügbaren Pressplätze
  • Massiv steigende Preise
  • Produktionsunterbrechungen durch Rohstoffmangel

Wie war es vorher?

Vor nicht einmal 2 Jahren sah die Situation noch ganz anders aus. Die Vorlaufzeit für die Produktion einer LP-Edition (egal in welcher Stückzahl) betrug ca. 6 Wochen bis zur Lieferung einer Testpressung, die für die Produktionsfreigabe benötigt wird – und nach deren Freigabe nochmals 6 Wochen. Also 3 Monate zwischen dem Zeitpunkt, an dem eine Band aus dem Studio kommt und dem Zeitpunkt einer möglichen Auslieferung der Ware an Plattenläden und Mailorder.

Heutzutage sprechen wir von 8-10 Wochen für die Testpressung und mindestens 6 Monaten (Tendenz: steigend!) für die Produktion des Merchandise.

Die Bedrohung

Der offensichtliche Punkt ist derzeit vor allem dieser: Eigentlich müsste eine Band heute schon einige Wochen VOR ihrem Studiotermin das fertige Artwork beim Presswerk einreichen und auch schon detaillierte Angaben zur geplanten Bestellung machen (Stückzahl, verschiedene Vinylfarben, etc.). Das ist natürlich nicht branchenüblich, denn die meisten Bands gehen wohl erst NACH ihrem Studiotermin auf "Einkaufstour" (d.h. bieten das Album externen Partnern an) und rollen die Kampagne danach aus. Es ist auch fast unmöglich geworden, diese verrückten Vorlaufzeiten mit denen von z.B. Booking-Agenturen und Clubs in Einklang zu bringen, die nach COVID ebenfalls mit aus dem Ruder gelaufenen Vorlaufzeiten zu kämpfen haben und derzeit meist ebenfalls 12-18 Monate im Voraus ausgebucht sind.

Wohin das führt, wird auf den zweiten Blick deutlich: Während gerade Newcomer in der Vergangenheit davon profitierten, dass sich gut verzahnte Kampagnen gegenseitig unterstützten (d.h. eine Tournee zum Album generierte doppelte Aufmerksamkeit und eine Promo-Kampagne transportierte von der überregionalen zur regionalen Presse), müssen heute mehrere anstrengende Versuche unternommen werden, um das gleiche Ziel zu erreichen.

Auch die Liquidität leidet massiv unter den neuen Bedingungen. Der Trend zur Vorauszahlung nimmt derzeit zu, d.h. immer mehr Studios, aber auch Presswerke, wollen ihr Geld bei Auftragserteilung erhalten. Refinanziert werden diese hohen Kosten durch LP-Verkäufe, die nun bis zu 12 Monate in der Zukunft liegen statt 4. Früher konnte man diese Lücke mit einer frühen Vorverkaufsphase leicht überbrücken und für schnelle Liquidität sorgen, nun wird das Risiko zunehmend auf die Schultern der Bands ODER ihrer Fans verlagert (mal ehrlich: welcher Fan einer jungen Newcomer-Band kauft ein Album 1 Jahr im Voraus?).

Für die Labels potenziert sich nun dieser Liquiditätsdruck. Während sie früher eine Platte nach der anderen in die Presswerke gaben und mit den Einnahmen von Platte 1 die Kosten von Platte 2 finanzieren konnten, sind sie nun gezwungen, mehrere (manchmal Dutzende) Alben gleichzeitig zu erhöhten Preisen vorzufinanzieren - bei unsicherer Kenntnis von Liefer- und Veröffentlichungsterminen.

Es bleibt die Frage, wie sich diese kurzfristigen Probleme langfristig auswirken werden. Auch ohne die Vinyl-Krise hatten kleine und mittlere Bands massive (Re-)Finanzierungsprobleme, um die Studio- und Presskosten wieder hereinzuholen.

Die traurige Folge könnte sein: ein plötzlicher Rückgang der Vinylpressungen von Nischenkünstlern.

Mirko Quote2

Die Folge ist eine weitere Vereinheitlichung der auf Vinyl veröffentlichten Alben (Chart-Hits + Nischenkönige), was vor allem die spezialisierten Plattenläden und den Versandhandel unter Druck setzen wird (die schon jetzt oft vor dem Problem stehen, neues Material wegen der Verzögerung überhaupt in den Laden zu bekommen). Auf jeden Fall haben die gestiegenen Rohstoff- und Herstellungspreise dazu geführt, dass ein durchschnittliches Vinyl-Album im Handel nicht mehr 15-20 Euro, sondern 25-30 Euro kostet. Die Kunden werden nur noch die Platten kaufen, die sie WIRKLICH wollen. Entdeckungs- oder Zufallskäufe werden in Zukunft weniger werden. (Begleitend könnte man auch die Frage stellen, wie viele Alben sich ein Sammler leisten kann, wenn auch sein allgemeines Vermögen und Nettoeinkommen von Corona-Maßnahmen und der allgemeinen Wirtschaftskrise betroffen ist).

Viele Bands reagieren bereits auf die aktuelle Krise, indem sie Alben zuerst digital und dann 3 Quartale später physisch veröffentlichen – was meiner Meinung nach zu weiteren dramatischen Umsatzeinbrüchen führen wird. Vinyl-Verkäufe in Läden, aber auch auf Tournee machen etwa die Hälfte der Verkäufe eines Albums aus (die anderen 50% bekommen Bands in der Regel über ihre eigenen Webshops an Vorbesteller verkauft). Ich habe große Zweifel, dass die Verkäufe am Merch-Tisch viele Monate nach digitaler Veröffentlichung hier noch mithalten können, wenn die Fans das Album bereits über Spotify in- und auswendig kennen konnten. Eigentlich müsste die Konsequenz aus diesem Gedanken sein, noch mehr Geld in Haptik und Verpackung zu investieren – aber siehe oben: Die Preise explodieren bereits für Standardpressungen. Wer kann und will sich noch teurere Sammlereditionen leisten?

Wenn Bands und Labels weiterhin synchron veröffentlichen und parallel zu den Veröffentlichungsterminen Marketing-, Tournee- und andere Promotionsaktivitäten starten wollen, dann haben sie derzeit keine andere Wahl, als ihre Vorlaufzeiten von 6 auf 12-18 Monate nach der Aufnahme des Albums zu verlängern – koste es, was es wolle.

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