Du hast noch gar nichts gesehen – VR und AR für Musik
- Gideon Gottfried
- 05 August 2016, Freitag
Virtual Reality ist hier. Und schon jetzt wird deutlich, welches Potential sie für Musiker bietet. Einerseits, was das Engagement von Fans angeht, andererseits, was potentielle Synch-Deals betrifft. Denn ohne Musik bzw. Sound ist jedes VR-Erlebnis langweilig und unecht. Zugegeben: noch sieht es recht merkwürdig aus, mit einer überdimensionalen Cyborg-Brille auf dem Kopf in eine Welt einzutauchen, die kein Außenstehender wahrnehmen kann. Wer jedoch schon einmal in den Genuss dieser Technologie gekommen ist, weiß, dass es schwer ist, Realität und virtuelle Realität auseinander zu halten.
Einfach ausgedrückt, kombiniert Virtual Reality 360-Grad- und 3D-Aufnahmen, sozusagen das visuelle Pendant zu Surround Sound. Die Bilder werden anschließend zusammengefügt, ein Prozess der im Fachjargon als „Stitching“ bezeichnet wird. Je besser „gestitcht“ wird, desto realistischer die Erfahrung. Mittlerweile sind Kamerasysteme auf dem Markt, die einen nahtlosen Bildfluss ermöglichen, über eines davon behauptet die Firma NextVR zu verfügen. Die Tatsache, dass der weltweit größte Konzertveranstalter Live Nation der Firma erlaubt hat, Konzerte zu filmen und als VR-Videos bereit zu stellen, lässt vermuten, dass NextVR nicht zu hoch stapelt.
Live on Stage mit der Band
Die Art und Weise, wie das Unternehmen mit eigens entwickelter Technologie Daten komprimiert sowie die High-End-Kameras, die es verwendet, sorgen für ein unverzerrtes Erlebnis. Wer es also nicht auf ein Konzert schafft, kann es sich künftig von zuhause aus ansehen. Der Clou: man kann zwischen unterschiedlichen Kameraperspektiven wechseln, je nachdem, wo im Stadion, Club oder der Arena Kameras angebracht sind: vor der Bühne, auf der Bühne, in den hintersten Rängen, auf dem Stadiondach. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Bands, die ihren Fans ein besonderes Erlebnis bescheren möchten, können eine Kamera inmitten des Bühnengeschehens platzieren und mit ihr interagieren. Schlagzeuger oder Keyboarder können ihren Fans erlauben, ihnen während des gesamten Konzerts auf die Finger zu schauen. Richtig interessant wird es, wenn sich Künstler dazu entscheiden, ihre Fans auf virtuelle Tour durch ihr Studio oder gar Privatanwesen zu führen. Könnt ihr euch etwas Cooleres vorstellen, als bei den Albumaufnahmen eures Idols im Studio zu stehen, und zwar mit Rundumblick? Ihr seht nicht nur, was der Künstler in der Aufnahmekabine treibt, sondern auch, wie der Engineer abmischt bzw. was die Feature-Gäste so auf der Couch treiben, während sie auf ihren Einsatz warten. Das ist nur ein Beispiel. Die Möglichkeiten sind grenzenlos.
Die Realität verändern
Erst recht, wenn Augmented Reality ins Spiel kommt. Brad Allen, der Executive Chairman von NextVR, berichtet von einem Coldplay-Konzert, das von seinem Unternehmen gefilmt wurde. Hinter einer der Kameras befand sich ein schwarzer Vorhang, 180-Grad-Sicht reichte also völlig. Es gab keinen Grund, Qualität und Bandbreite zu verschwenden, um einen schwarzen Vorhang zu filmen. Das heißt jedoch nicht, dass ein uninteressanter Hintergrund nicht ebenfalls genutzt werden kann. Vergesst nicht, dass wir uns in einem virtuellen Raum befinden, in dem es nichts gibt, was nicht generiert werden kann. Wie wäre es beispielsweise mit einem Button, um Merchandise der Band zu kaufen, oder einer Tafel mit den verbleibenden Tourstopps inklusive Ticketkauf-Link? Die Interaktivität verstärkt das Gefühl, tatsächlich auf einem Event zu sein.
Als Künstler ergeben sich unzählige neue Möglichkeiten, um mit den Fans zu interagieren. Zugegeben: Aktuell ist die benötigte Hardware – eine VR-Brille – noch recht klobig. Ein gutes Modell kostet zudem eine Menge Geld. Im untersten Preissegment befindet sich Googles Cardboard, mit der ihr euer Handy zu einer VR-Brille umfunktionieren könnt. Die Qualität wird jedoch nicht ausreichen, um die eben beschriebenen Szenarien glaubhaft darzustellen. Doch wie mit allen Technologien wird auch VR mit der Zeit massentauglicher werden. Wenn die besten Brillen erst aussehen wie eine Oakley und auch dasselbe kosten, ist der Weg geebnet. Doch schon heute lässt sich mit der Technologie spielen, auch ohne viel Geld in die Hand nehmen zu müssen.
Das Unternehmen Hashplay ermöglicht im Grunde jedem, möglichst einfach VR-Locations zu erstellen, das „Wordpress für VR“, wie die Unternehmensgründer es nennen. In diesem virtuellen Raum können verschiedene sogenannte „Hotspots“ erstellt werden, über die Audio, Video, Bilder und Streams in den Raum eingebunden werden können. Denkbar ist beispielsweise, eine Albumveröffentlichung mit einem virtuellen Raum zu begleiten, in dem sich Fans umsehen können. Videos und Hörproben können auf kreative Art und Weise in den Raum eingebunden werden. Es muss natürlich kein Raum sein, auch der Mars, Grand Canyon oder eine Eisscholle in der Arktis sind denkbar.
Ohne Musik nix los
Wie Eingangs erwähnt, wird für die meisten VR-Programme, -Welten und -Erlebnisse Musik oder zumindest Klänge benötigt, um Atmosphäre zu erzeugen. Für Künstler entsteht so ein neues Feld, in dem sie ihre Musik lizenzieren können. Wie wir alle wissen, ist die Musikbranche nicht der beste Ansprechpartner, wenn es um das Lizenzieren von Songs geht, so absurd das klingt. Schon im Zuge der Streaming-Revolution wurde allen Beteiligten deutlich gemacht, dass Lizenzierung im digitalen Zeitalter einfach gestaltet werden muss, damit die Entwicklung von neuen Apps nicht ins Stocken gerät, nur weil die Musik nicht verfügbar ist. Seither hat sich im Lizenzbereich kaum etwas getan. Falls ihr also Künstler seid, die Mitglied einer Verwertungsgesellschaft sind, mag euch die VR-Revolution einen weiteren Anstoß geben, die Zuständigen unter Druck zu setzen, ihr Geschäftsmodell auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen.
Falls ihr dagegen schon lange damit beschäftigt seid, euch außerhalb traditioneller Strukturen zu bewegen, eröffnet sich mit VR eine völlig neue Welt, die nach Musik lechzt. Wie schon er Games-Sektor wird sich auch der VR-Sektor nach GEMA-, SUISA-, PRS-freier Musik umsehen. Dann solltet ihre bereit stehen.
VR küsst Blockchain
Zum Schluss ein kurzer Exkurs zum Thema Blockchain (der Autor glaubt nach wie vor, dass es sich dabei um die revolutionärste Technologie aller Zeiten handelt). Einige Tech-Genies haben sich nun zusammengetan, um VR und die Blockchain zu kombinieren, denn für VR gibt es noch keinen einheitlichen Dateistandard. Ihr Ziel ist es, ein Dateiformat zu kreieren, das neben den Audio- und Video-Dateien auch sämtliche Lizenzen beinhaltet. .bc heißt das Ergebnis. „Dieses Dateiformat beinhaltet alles, was man benötigt, um mit einem Song arbeiten zu können: Sämtliche Kontakte, wer an dem Song beteiligt ist und einen Anspruch auf Vergütung hat, wie hoch diese Vergütung ausfällt, in welchen Ländern der Song verfügbar ist, wann die Lizenz endet etc.“, erklärt Benji Rogers, eines der Genies. Die Blockchain-Technologie ermöglicht es anschließend, diese Informationen automatisch auszuwerten, Gelder aufzuteilen und in Echtzeit an alle Beteiligten zu überweisen.